Die größten Ereignisse - das sind nicht unsere lautesten, sondern unsere stillsten Stunden. Friedrich Nietzsche Werke II Also sprach Zarathustra |
Wer sich für Zen interessiert, kommt an John Cage nicht vorbei. Der Komponist, der am 5.9.2012 hundert Jahre alt geworden wäre, war mit der Zen-Lehre bestens vertraut. Er wollte bei seinen Kompositionen ohne ein agierendes Ich auskommen. So kam er auf die Idee, das I-Ging als eine Art Zufallsgenerator zu benutzen, und entwickelte daraus einen Teil seiner Werke. Interessant ist dabei sicher auch, dass er in den letzten sechs Jahren seines Lebens Werke für 1-108 Musiker komponierte.
Die Zahl 108 ist eine heilige Zahl im Buddhismus: die heilige Schrift des tibetischen Buddhismus, der Kanjur, umfasst 108 Bände. Man spricht von 108 Meditationen, 108 Gefühlen, 108 Leidenschaften etc. Nach der buddhistischen Lehre hat der Mensch sechs Sinne: Sehen, Hören, Riechen, Fühlen (Tasten), Schmecken und – neben diesen auch im Westen geläufigen Sinnen – auch Denken. Jeder dieser sechs Sinne kann mit angenehmen, unangenehmen oder neutralen Gefühlen verbunden sein. Dreimal sechs macht 18. Jedes dieser 18 Gefühle kann anhaften oder nicht anhaften und manifestiert sich in drei Zeiten: Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Zweimal 18 macht 36 und dreimal 36 macht 108.
Der Sender 3sat widmete dem Künstler vor kurzem eine einstündige Sendung, in der neben dem beeindruckenden Lebensweg auch die Arbeitsweise und die Philosophie des oft missverstandenen "Enfant Terrible" der Musik nachgezeichnet werden.
Ein besonderer Moment in John Cages Leben war die Erkenntnis, dass es keine absolute Stille gibt. Als er sich in einem schalltoten Raum befand, hörte er weiterhin Töne. Der Tontechniker erklärte ihm, dass dies sein Herzschlag sei, dass er das Rauschen des Blutes in den Adern und vom Nervensystem produzierte Frequenzen weiterhin hören könne. Und so wird jeder Meditierende, der die "Stille" sucht, am Ende die gleiche Erfahrung machen. In der größtmöglichen Abwesenheit von äußeren Geräuschen hört man - sich selbst.
John Cage komponierte daraufhin 1952 das silent piece 4'33" (1952), in dem keine Musik zu hören ist. Während sich die meisten Konzertbesucher veräppelt fühlten, ging es dem Komponisten darum, einen Erfahrungsraum zu schaffen. Die Zuhörer sollten die Möglichkeit haben, ihre Aufmerksamkeit auf die Geräusche und Töne zu richten - im Grunde genommen ist das nichts anderes, als die Aufforderung zur Meditation im Hier und Jetzt - pures Zen. Natürlich spielt diese provokante Darbietung auch mit den (nicht erfüllten) Erwartungen des Publikums.
Unsere Ohren sind stets offen, selbst nachts, wenn wir schlafen. Im Getöse und Gelärme des Alltags empfinden wir Geräusche als störend, wir blenden sie aus oder überlagern sie mit Musik aus dem Radio. John Cage lebte viele Jahre lang in New York, an einer der lautesten Straßenkreuzungen der Stadt. Er liebte diesen Ort und er liebte die Klänge, die er dort hören konnte. Lärm macht krank, das ist wissenschaftlich nachgewiesen. Aber die Entscheidung, ob wir etwas als Lärm empfinden, oder ob wir Klänge hören, treffen wir immer noch selbst.
Daher kann an dieser Stelle nur die Aufforderung kommen, die Erfahrung selbst zu machen.
Stelle einen Wecker auf 4 Minuten und 33 Sekunden.
Lasse die Zeit rückwärts laufen und lausche!
Mehr zu John Cage:
Zeit.de 100 Jahre John Cage
Biografie (BR Klassik)
Wikipedia
3sat: John Cage
Youtube: John Cage über Stille (Englisch)
P.S.: Eine Realisation des Orgelwerkes »ORGAN²/ASLSP« (As Slow(ly) and Soft(ly) as Possible), das "langsamste Konzert der Welt", wird seit dem 5. September 2001 in Halberstadt in der St.-Burchardi-Kirche aufgeführt. Diese Aufführung soll bis zum 4. September 2640 dauern, also insgesamt 639 Jahre.
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