Dienstag, 2. Juli 2013

Erleben statt erzählen






















"Tun Ihnen die Füße weh?" fragte eine Mitreisende, als sie mich barfuss laufen sah. Ich schaute die ältere Dame irritiert an und schüttelte den Kopf.
"Ach so",  sagte sie, "es ist Sommer." Ich nickte und machte mich aus dem Staub - wie so oft in diesem Urlaub, wenn jemand das Gespräch mit mir suchte.

Normalerweise bin ich ein aufgeschlossener und äußerst höflicher Mensch und ich habe Erfahrung im gepflegten Small-Talk. Aber irgendwann ist es dann auch gut. Ich hatte keine Lust, zwanzig Leuten zu erzählen, wer ich bin und was ich denn so mache. Man sollte vielleicht keine Gruppenreise buchen, wenn man einfach nur schauend durch die Landschaft trappen möchte, aber das ist ein anderes Thema. Was uns in diesem kurzen aber sehr intensiven Wanderurlaub auf den englischen Kanalinseln auffiel, war die Tatsache, dass ausser uns niemand barfuss über den Strand lief. Für uns gab es nichts Schöneres, als die Füße aus dem beengenden Schuhwerk zu befreien, und mal zu spüren, wie sich der Sand und die Kieselsteine anfühlen, oder wie kalt oder warm das Wasser ist, das an den Strand schwappt. Ja, manchmal piekt auch eine Muschel von unten, oder man muss schleimige Ansammlungen von Algen überwinden. Aber nicht nur das Gehirn bleibt jung, wenn man es mit ungewohnten Eindrücken konfrontiert. Welche Namen die Rosen im Rosengarten von St. Helier hatten, weiß ich nicht. Sie dufteten einfach so betörend, dass ich darüber kurzzeitig meinen Verstand verlor :-)

Denken mit dem ganzen Körper - das verlernen wir, wenn wir erwachsen werden. Kinder können das ganz hervorragend. Ihnen fehlt das, was wir als Vernunft bezeichnen. Sie ordnen noch nichts ein, sie erleben es einfach - und alles ist neu. Während wir im Laufe unseres Lebens Erfahrungen sammeln und immer vernünftiger werden, gewinnt der Verstand Oberhand. Der Verstand hält die zuvor gemachten Erfahrungen und Erinnerungen irgendwann für eine feststehende Realität. Ab diesem Zeitpunkt tendieren die meisten Menschen dazu, das aktuelle Erleben mit ihren Erfahrungswerten abzugleichen.

Vielleicht lautete die Erfahrung:
Es ist zu kalt / zu schmutzig, um barfuss zu laufen?
Als wir Kinder waren, hat uns weder das eine noch das andere gestört. Es waren unsere Eltern, die uns warm eingepackt und uns für die dreckigen Füße oder die Schnittwunde am Zeh gescholten haben. Oder wir haben irgendwann den Satz gehört: "Du bist jetzt zu alt, um ... (barfuss zu laufen)" oder auch:
Barfusslaufen tun nur Leute, die sich keine ordentlichen Schuhe leisten können?
Bei manchen Menschen sitzen diese Stimmen von Eltern oder Erziehern ein Leben lang im Hinterkopf. Es muss schon ein besonders spektakuläres oder ungewohntes Erlebnis sein, das den Normaldenker dazu bewegt, seine gewohnte Denkstrukturen zu verlassen und neue (abweichende) Erfahrungen zuzulassen. Oder man braucht einen sehr, sehr langen Urlaub...

Die meisten Menschen reisen, um etwas anderes zu erleben als sonst, und doch landet Vieles ganz automatisch in der Schublade "kenn ich schon - das ist wie damals als... - das erinnert mich an..." usw. Einfach nur wahrnehmen und erleben ohne ein Wort darüber zu verlieren... das ist ein merkwürdiges Verhalten. Bei mir wird die Kameraausrüstung oft dafür verantwortlich gemacht, dass ich so abwesend wirke. Ich gebe zu: es ist ein hervorragendes Schutzschild gegen Ablenkungen von außen. Bitte nicht stören, ich ARBEITE... Das versteht jeder. Dass ich beim Fotografieren in einen sehr wachen und aufmerksamen Zustand wechsle, können die wenigsten nachvollziehen. Achtsamkeit beim Fotografieren funktioniert, wenn man sein Handwerk aus dem FF beherrscht und nicht mehr über die Fotos nachdenken muss. Dann kann man sogar aus dem Handgelenk knipsen, weil die Kamera kein technisches Gerät mehr ist, sondern als Teil des Körpers wahrgenommen wird - jedenfalls erlebe ich das so.

Vor vielen Jahren, als ich noch Single war, und alleine auf Reisen ging, meinte eine Kollegin: "Aber es ist doch viel schöner, wenn man seine Erlebnisse mit jemandem teilen kann!"  Ich fand das damals gar nicht so wichtig, und nach dieser Reise weiß ich endlich auch warum: Dieses Teilen von Erlebnissen durch Erzählungen und Worte ist oft nichts anderes als ein Hervorkramen von Erinnerungen oder das Formulieren von gedanklichen Projektionen.
A: "Das sind wunderschöne Blumen."
B: "Solche habe ich auch Zuhause im Garten, aber meine sind vertrocknet."

Person B sieht nicht die schönen Blumen, sondern das Bild der eigenen Blumen vor ihrem inneren Auge. Sie ist nicht am Strand der Insel Jersey, sondern in ihren Gedanken - Zuhause in Deutschland. Dialoge wie diese sind auf Reisen an der Tagesordnung. Die meisten Menschen erfreuen sich daran und erleben es als Bereicherung - das ist wunderbar. Nicht umsonst nennt man ein Gespräch auch "Gedankenaustausch". Bei so einem Austausch von Gedanken kommt man vom Hundertsten zum Tausendsten, die Assoziationsketten lassen sich endlos fortführen. Auf diese Weise erfährt man oft auch eine Menge über das Leben und Tun der anderen: Beruf, Familie, Interessen, Erfahrungen... eben all das, was uns in unseren verschiedenen Rollen und Lebensbereichen nach aussen hin definiert. Das Dumme ist nur, dass man sich dem Jetzt nicht öffnen kann, wenn man dauernd mit seinen Gedanken und Erinnerungen beschäftigt ist, und diese auch noch in Worte gießen soll.

Wir waren in diesem Urlaub nicht in der Lage, unsere Gedanken zu teilen, denn wir hatten sehr wenige. Wir sind sehr schnell in ein sehr intensives Erleben - die "Ganzkörpererfahrung" - eingetaucht, und so ist es unterwegs auch kaum jemandem gelungen, uns durch ein Gespräch aus diesem Zustand wieder raus zu holen. Bei den gemeinsamen Mahlzeiten war das anders. Allerdings ist anzumerken, dass auch das Essen intensiver schmeckt, wenn man nicht so viel babbelt.

Im Zen wird nicht oder kaum gesprochen, und dennoch entsteht während eines Sesshins eine Verbindung zwischen den Meditierenden. Man muss nichts über die anderen wissen, weder wie alt sie sind, noch was für eine Geschichte sie haben. Es reicht, einfach nur präsent zu sein. Der Austausch erfolgt auf einer anderen Ebene, die keine Worte braucht. So gesehen war es vielleicht doch die richtige Entscheidung, eine Gruppenreise zu buchen ;-)

Und was die Fotos angeht: Die sind letztlich auch nur Projektionen eines Moments. Sie geben nur einen sehr oberflächlichen Blick auf das preis, was der oder die Fotografierende im Augenblick des Auslösens wahrgenommen hat....



(JE, 2.7.13)

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